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Seelen-Wanderung Auf dem Stern der Ewigen Glückseligkeit irrte eine kleine Seele umher wie ein verlorenes Gazellenkitz in einer Elefantenherde. Ihr Leib war kurz nach der Geburt gestorben und deshalb fehlte es ihr an irdischen Erfahrungen. Erzengel Gabriel wachte darüber, dass nichts die Atmosphäre der Heiligen Haine trübte. Also flog er sofort zu dem dunklen Punkt und erkundigte sich bei der kleinen Seele nach ihrem Kummer. „Du musst Dich nicht grämen“, erklärte er, nachdem er ihre Geschichte gehört hatte, „ich besorge Dir eine Sonderfahrt zur Erde. Dort kannst Du solange bleiben, bis Du genug gesehen hast, um mitreden zu können.“ Sofort flog der Engel zum Allerhöchsten und erwirkte Gottes Segen für diesen Ausflug. Dann trug er die kleine Seele zum großen Regenbogen, wünschte ihr Glück und ließ sie dort zur Erde rutschen. Welch himmlisches Vergnügen, auf dieser bunt leuchtenden Rutschbahn hinabzugleiten. Am Spätnachmittag erschütterte ein Gewitter die Luft und ein Regenguss platschte vom Himmel. Dem Druck der riesigen Tropfen hielten die zarten Halme nicht stand. Bei Sonnenuntergang dampfte die voll gesogene Erde und die gebeugten Gräser richteten sich auf. Die schönen Blumen aber lagen gebrochen auf dem Boden und verfaulten. „Seltsam“, dachte die kleine Seele, „wenn es Überfluss prasselt, können die stolzen Blumen dem Druck nicht widerstehen und gehen zugrunde. Die einfachen Gräser hingegen schmiegen sich ans Erdreich und richten sich nachher wieder auf, sodass weder Sturzregen, noch Sturmwind ihnen etwas anhaben können.“ Inmitten der Wiese stand eine mächtige Altane. In ihrem Geäst saß ein alter Rabe und schüttelte sein nasses Gefieder. „Sage Du mir, was das Leben ist“, bat die kleine Seele. „Das Leben ist ein Unsinn“, grantelte der schwarze Vogel. „Sind die Zeiten gut, kannst Du sie nicht genießen, weil Du mit der Brut beschäftigt bist. Und wenn die Jungen flügge sind, brechen die mageren kalten Zeiten an.“ „Aber die Jugend muss doch schön sein“, überlegte die kleine Seele laut vor sich hin. „Ach was“, lästerte der schwarz gefiederte Griesgram, „schau sie Dir doch überall an: Erst sind sie ständig hungrig und streiten sich ums Futter, dann müssen sie das Fliegen lernen und schon geht der Ernst des Lebens los. Nach etlichen Jahren bist Du schwach und krank und kannst darauf warten, von irgendeinem gierigen Raubtier verspeist zu werden. Das ist der Lauf der Welt. Und wenn Du mich fragst, hast Du nichts versäumt.“ Betroffen flog die kleine Seele weiter. Zwischen einer Ansammlung von Häusern schaute sie sich neugierig um: In den Gärten duftete blühender Oleander und hinter den Fenstern blinkten gelbe Lichter auf. In einer von Bougainvilleen überwucherten Laube kauerte ein junger Mann und stimmte seine Mandoline. Dann sang er voller Inbrunst: „Oh donna mia, erhöre mein Werben, sonst bin ich des Todes.“ Ein Fenster im ersten Stock öffnete sich und die Angebetete warf eine Kusshand in den Garten. Dann trat die schwarz gelockte Jungfrau auf den mit Rosen umrankten Balkon und scherzte: „Wenn Dein Leben von meiner Liebe abhängt, so will ich Dich nicht ins Grab bringen“, und warf den Hausschlüssel hinunter. „Untersteh’ Dich, hereinzukommen, ehe Du sie zum Altar geführt hast!“ fauchte ein altes Weib zum Küchenfenster hinaus. „Und Du“, wandte sie sich an das Mädchen, „sperr’ Deine Kammer ab und höre nicht auf das Gejammer. Der bringt Dich eher ins Wochenbett, als sich auf den Friedhof!“ Und damit warf sie faule Tomaten auf den unglücklichen Freier und sammelte den Schlüssel ein, den er vor Schreck fallen gelassen hatte. „Das ist doch ein unwürdiges Spiel“, dachte die kleine Seele und schwebte kopfschüttelnd weiter. Können die Menschen nicht ehrlich miteinander umgehen? Am Kirchplatz plätscherte ein Trinkbrunnen inmitten einer Gruppe blühender Akazien. Im lichten Schatten der Bäume saßen einige alte Leute auf einer Bank zusammen: „Das Leben ist doch ein einziger Irrgarten“, brummte der Bäcker, „da gehst Du suchend um vielerlei Ecken und landest zum Schluss wieder dort, wo Du angefangen hast: „Wie meinst Du das?“ fragte eine schrumplige Alte. Erst backst Du Reisfladen, dann weißes Brot, dann Rosinensemmeln, dann Kuchen und Torten. Und wenn Du Dir den Magen verdorben hast, schmeckt Dir nur mehr eine Milchsemmel. Es war ganz interessant – doch wozu?“ „Das sehe ich anders“, antwortete der Schuster. „Ich begann mit Schnürsandalen, später fertigte ich feste Wanderstiefel, und zuletzt feine Tanzschuhe für reiche Senoritas. Ich habe eine hohe Kunstfertigkeit erworben und an Kinder und Enkel weitergegeben. Mögen sie das Schuhhaus weiterbauen, zu dem ich den Grundstein legte.“ „Der Meinung bin ich auch“, fiel nun der weit gereiste Tuchhändler ein, „für mich gleicht das Leben einer Gebirgswanderung. Kaum hast Du einen Gipfel erreicht, siehst Du einen höheren, den du noch erklimmen willst. Wer geschickt handelt, wird auch immer reicher.“ „Es gibt noch einen andern Reichtum!“ mahnte eine Stimme aus dem Hintergrund, „übt Euch in Demut und folgt mir zum Gebet.“ „Auch Heiligkeit hat ihren Preis“, gab die alte Jungfer zu bedenken und verhüllte ihre sehnsuchtsschwangeren Augen mit vergilbten Spitzen. Dann folgte die kleine Gesellschaft dem Padre zur Kirche. Über den Weg lief eine grau getigerte Katze mit einem schwarzen Raben im Maul und auf dem Altar standen Trockenblumen... Aus der nahe gelegenen Bodega schallte Musik. Hinter dem Sommerflieder am Terrassenrand umarmte eine Braut ihren heimlichen Geliebten, während der Bräutigam seinen Lebensgeist dem Weingeist opferte und die Gäste wie in Trance Tarantella tanzten. Keiner bemerkte, wie der Dorfbürgermeister im Hinterzimmer verschwand. Während er sich wie ein Stier auf die Dorfhure stürzte, widmete ihr ein junger Poet im Dachstüberl ein zartfühlendes Gedicht. Er hatte ihre Zurückhaltung als Zeichen der Keuschheit gewertet, während sie nur zahlungskräftige Herren erhörte... Ein paar Häuser weiter saß die Bürgermeistersfrau strickend im Lehnsessel und wartete auf ihre fünfte Niederkunft. Unter ihr stritt sich die Krämerin mit ihrem Mann ums Geld. „Das Dorfleben ist doch wie ein wilder Tanz“, überlegte die kleine Seele, „keiner weiß, wohin er gehört oder woran er ist, aber alle wollen sie mit dabei sein, um ja nichts zu verpassen.“ Angewidert flog sie zur Kirchturmspitz und betrachtete den stillen Kirchhof von oben. Hinterm Eingang wühlte ein Landstreicher im Abfall herum und fand eine hölzerne Heiligenfigur: „Jetzt sind wir reich!“ jubelte er seinem Kumpan entgegen, der Wache gestanden hatte, weil das Betreten des Friedhofs bei Nacht verboten war. „Lass mal sehen“, erwiderte jener und betrachtete die Figur unter der Laterne. „Da war ein Stümper am Werk“, befand er, „aber für ein Feuerchen ist Holz immer gut.“ ‘Wie raffgierig die Menschen doch sind’, dachte die kleine Seele, ‘in sinnloser Zerrissenheit ereifern sie sich — dabei ist ihr Dasein so wertlos, wie diese missratene Holzfigur.’ Abgestoßen schwebte sie über die Giebel der Häuser hinweg zur Pampa, die arglos im Mondschein träumte. Am Fuße eines Hügels, eingebettet zwischen einem Oliven- und einem Orangenbaum, stand eine Hütte. Zum Fluss hin bildeten Heckenrosen einen Schafspferch, der von zwei zottigen Hirtenhunden bewacht wurde. In dem Häuschen lebten ein Schäfer und eine Schäferin, die ihr hartes Leben nicht tauschen wollten mit den Bequemlichkeiten im Dorf. Des Morgens begrüßten sie mit den Tieren die Sonne, tagsüber wechselten sie sich ab beim Hüten der Herde und dem Verrichten der Hausarbeit. Abends saßen sie bei Brot und Käse vor dem Haus und erzählten sich ihre Erlebnisse und Gedanken vom Tage, während der Rosmarin mit dem Lavendel um die Wette duftete. Vor dem Schlafengehen dankten sie dem Schöpfer für alles, was er ihnen gab. Und wenn sie einander glücklich auf dem Stroh umarmten, störte kein falscher Ehrgeiz ihre innige Zweisamkeit. An diesem Abend jedoch saßen sie bedrückt am Bett ihres Töchterchens und hielten die Hand des kranken Kindes. Es lag bewusstlos in seinen Fieberträumen und ein eigenartiger Glanz umgab das feuchtheiße Antlitz. Da öffnete sich knarrend die Tür, ein Windstoß löschte die Kerze und den Eltern lief ein kalter Schauer über den Rücken. Unsichtbar trat der Sensenmann über die Schwelle und tat seine Pflicht. Als die kleinen Hände kraftlos herab sanken, tropften heiße Tränen auf den kleinen Körper und innige Gebete raunten aus den Lippen der unglücklichen Eltern. „Warum hast Du das getan?“ stellte die kleine Seele den Tod zur Rede, „dauern Dich diese guten Leute nicht?“ „Ich entscheide das nicht“, erwiderte der Knochenmann, „aber wenn Du ein neues Erdendasein als Kind dieser Schäfer führen willst, kann ich Dich schnell mit seinem noch warmen Körper verknüpfen.“ Zum Zeichen zog er eine silberne Nadel aus seinem Schattenmantel und hielt inne. „Das will ich gern“, entschied die kleine Seele und schwebte ohne weiter nachzudenken zur Hülle des Schäferkindes. Da nahm der Sensenmann den Strahl des Abendsterns und flickte mit großer Sorgfalt die kleine Seele dort an, wo er die Zurückbefohlene abgetrennt hatte. Das kleine Herz begann wieder zu pochen. Leben durchflutete die Adern des Kindes und die kleine Hand tastete nach der Mutter. Freudiges Erstaunen erfüllte die Brust der Trauernden. „Sie lebt“ hauchte sie und wagte kaum zu atmen. Der Mann sprang sofort auf und entzündete eine neue Kerze. Da lag das Kind lächelnd auf dem Bett und bestaunte mit fremdartigem Blick sein neues Zuhause. Die Krankheit war geschwunden, aber es war plötzlich hilflos, wie ein Säugling. Die Schäferleute pflegten ihr Kind liebevoll, bis es wieder bei Kräften war. Dann unterwiesen sie es in allem noch mal, was sie ihm zuvor beigebracht hatten und übers Jahr stand das Mädchen seinen Altersgenossen in nichts mehr nach. Wenn aber beim Kirchgang die Dorfbewohner munkelten, es hätte im Fieber das Bewusstsein verloren, dann lächelte die Kleine vielsagend, so als käme sie von einem anderen Stern. Und als die Schäfertochter in die Schule kam, verblüffte sie den Lehrer mit ihrer Lebensweisheit. Ihr Geheimnis hütete die wiedergeborene Seele zeitlebens - die einfältigen Menschen hätten sie sonst für verrückt erklärt. Doch waren sie das nicht selber?
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