Lebenserinnerungen


Traumvision einer Spaziergängerin

 

Jeder meint, ab einem gewissen Alter folge der Mensch nur noch markierten Wegen.
Doch dem ist nicht immer so...

Nach sieben Jahren Reha spürte ich  endlich wieder festen Boden unter den Füßen.
Da überkam mich die Abenteuerlust:

Wie in Jugendzeiten, als ich auszog, die Welt zu erobern, stromerte ich durch den Wald - natürlich vom Wege ab - trabte über nadelig-schwammigen Moorboden, bewunderte Moose, roch Pilzbrut und Föhrenharz. Dann sprintete ich durch Mischwald, die Schuhe klebten auf feuchtem Lehm, Tausendschön und Leberblümchen wiegten sich bei jedem Windhauch.

Eine einsame Lichtung lockte mich in ihre Sphären. Schmetterlinge tanzten melodisch über hohe und niedrige Grasbüschel, ließen sich auf blauen Glockenblumen nieder. Hier mochte die Zauberwelt beginnen, wo Däumelinchen ihren Elfenprinzen fand.

Ich bedauerte, solch ein klobiges Riesenmonster geworden zu sein.
Aber Idyllen nehmen wohl nur in der Perspektive des Betracht
ers Idealcharakter an. Nichtsdestotrotz strahlte die göttliche Ruhe jener sonnendurchfluteten Beschaulichkeit soviel Lebenskraft aus, dass ich beim Einatmen des feuchten Waldwiesendufts auch eine gehörige Portion davon in mich einsog. Wie herrlich mochte es sein, hier zu leben - eine Hängematte zwischen den Birken, eine Kalebasse zum Trinken - aber ach, die wenigen Walderdbeeren würden meinen Riesenmonstermagen ja nicht füllen. Und wenn der Winter käme, fände sich kein passendes Mauseloch...

Berauscht und ernüchtert zugleich folgte ich versteckten Wildpfaden und verirrte mich ins Unterholz.
Wie Bambi stand ich nun da, inmitten einer Wildnis, die gleichzeitig Geborgenheit bot und mich  orientierungslos machte.
Da - ein Automotor! Eigentlich ein widerliches Geräusch für eine verzückte Naturschwärmerin.
Doch wenn man Weg und Steg verloren hat, wird selbst eine hässliche Betonschneise zum begehrenswerten Ziel.
Umsichtig schlug ich mich durchs Dickicht - wenn nur kein Wildschwein meinen Weg kreuzte...
Endlich Luft! Leicht angekratzt durchschritt ich einen Hochwaldstreifen.

Brombeergebüsch trennte Gottes freie Natur von der Motorenpiste.
Irgendwo fand sich eine Lücke: Im vergrasten Graben lag ein Schrottwagen, Modell Lang-lang-is-her.
Die Frontscheibe zersplittert wie ein Spinnennetz, innen von Wegkräutern durchwuchert. Ein streunender Hund schnüffelte am oberen Vorderrad.
Ob sich dort Kaninchen eingenistet hatten?

Unwillkürlich schmerzte mein Bein. Auch ich lag einst im Graben und solch eine Blechkarosse hatte meinen Oberschenkel zertrümmert. Welche Opfer dieser Unfall wohl gefordert hatte?

Da lag er nun, dieser Zivilisationsmüll, und rostete still vor sich hin.
Werden und Vergehen bestimmen alles auf dieser Erde.
Bloß den Wurm, der aus Autowracks Kompost zaubert, den hat noch kein Möchtegern-Herrgott erfunden...

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